Er zerlegt gerne Fußballspiele in ihre taktischen Einzelteile, kennt sich mit Doppelsechsen und falschen Neunern bestens aus und hat nun ein Buch geschrieben. Autor und Journalist Tobias Escher befasst sich mit seinem Werk "Vom Libero zur Doppelsechs" mit der Taktikgeschichte des deutschen Fußballs. Wir haben mit ihm über die Taktik in Kreisliga, die Recherche und Fachbegriffe gesprochen.
Was hat dich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?
Die Idee kam mir vor zwei Jahren. Ich habe selber festgestellt, dass ich viel über die deutsche Fußballgeschichte weiß, aber wenig über die Taktikgeschichte. Gerade manche Segmente wie die 50er und 60er oder die 80er Jahre waren blinde Flecken in meinem Taktikwissen. Also habe ich das Angenehme mit der Arbeit verbunden und die privaten Recherchen ausgeweitet zu einem Buch.
Du blickst in deinem Werk auf etwa 100 Jahre Taktikgeschichte zurück – wie hast du recherchiert?
Es gibt gute Literatur zur Fußballgeschichte, gerade von Wissenschaftlern wie Dietrich Schulze-Marmeling oder Lorenz Peiffer oder Journalisten wie Jonathan Wilson oder Christoph Biermann. Diese waren die Grundlage für den historischen Abriss. Wichtige Quelle für taktische Fragen war der kicker, dessen Ausgaben ich von seinen Anfangstagen in den frühen 20ern bis in die 80er hinein gesichtet habe. Vor allem die früheren Ausgaben sind eine Fundgrube. Letzte Quelle waren die großen Spiele deutscher Mannschaften. Ich habe eine Sammlung mit über hundert Spielen aus allen Jahrzehnten
Die Analysen bei Spielverlagerung.de sind sehr ausführlich, für den einen oder anderen Fußballfan vielleicht auch etwas zu trocken. Warum lässt sich dein Buch flüssiger lesen?
Ich habe beim Buch bewusst den Anspruch gehabt, dass es für jeden Fan verständlich sein soll – egal, ob er jahrelanger Spielverlagerung-Leser oder totaler Taktikanfänger ist. Dazu gibt es zig Grafiken, Infoboxen und Erklärungen von Fachbegriffen. Spielverlagerung versteht sich hingegen als Fachzeitschrift. Wenn wir in jeder Analyse anfangen würde, die falsche Neun zu erklären, könnten wir nicht annähernd so ins Detail gehen, wie wir es möchten.
Wie wird man „Taktikexperte“?
Fußballschauen. Lesen. Nachdenken. Viel mehr braucht es dafür nicht. Ich habe mich mit den Grundbegriffen angefreundet und mir angewöhnt, einen bestimmten Blick auf das Spiel zu haben. Es ist auf jeden Fall kein Hexenwerk.
Was fasziniert dich an der Taktik einer Fußballmannschaft?
Der Fußball ist heute eine recht geschlossene Gesellschaft. Die Mannschaften schotten sich ab, manche Trainer geben keine Interviews mehr. Doch wenn ich ein Spiel schaue und auf die Taktik achte, ist das alles egal. Ich kann Dinge sehen, nachvollziehen – und für mich selber das Spiel ein Stück weit entschlüsseln. Das ist die Faszination.
Du stehst auf Taktik, du analysierst Spiele und hast wohl einen besseren Einblick auf die Taktik als manch anderer Kollege. Wärst du da nicht ein perfektes Bindeglied zwischen Trainern und Journalisten? Wenn Trainer auf einer Pressekonferenz etwa das Fußballwissen der Journalisten anzweifeln.
Manch Trainer ist sehr ungeduldig, was das Erklären von fachlichen Dingen angeht. Manch Journalist ist aber auch einfach unwissend. Der kicker hat vor einiger Zeit einen Artikel veröffentlicht, in der die moderne Fußballsprache von Trainern und Blogs wie Spielverlagerung kritisiert wurden. Als Beispiel wurde genannt, dass es lächerlich sei, dass Roger Schmidt einen Journalisten ausgelacht hat, weil dieser statt „Innenverteidiger“ den altmodischen Begriff „Vorstopper“ benutzt hat. Dabei bezeichnet Vorstopper historisch gesehen eine völlig andere taktische Rolle und hat völlig andere Implikationen. Wenn ich auf fachlicher Ebene mitreden will, muss ich Fachbegriffe nutzen. Den Leuten da draußen wiederum muss ich es so erklären, dass sie es verstehen.
Es gibt Begriffe wie den „abkippenden Sechser“ oder die „falsche Neun“. Wie entstehen solche Begriffe?
Irgendjemand denkt sich die Begriffe auf und dann setzen sie sich im Sprachgebrauch durch. Es ist sehr viel simpler zu sagen, „Götze spielte eine falsche Neun“ anstelle von „Götze spielte zwar im Sturm, er ließ sich jedoch oft ins Mittelfeld zurückfallen und zog von dort die Fäden“.
Ist das Taktikverständnis der meisten Fußballfans nicht zu limitiert, um diese sinnvoll einzuordnen?
Ich glaube, man kann schon mehr von den Zuschauern erwarten. Die Viererkette war vor zwanzig Jahren beispielsweise unbekannt, heute weiß jeder Fan, was eine Viererkette ist. Wenn man Begriffe benutzt, prägen sie sich ein.
Und wieso gibst du beim DFB noch keine Trainerlehrgänge?
Naja, nur weil ich ein Buch und ein paar Artikel geschrieben habe, bin ich kein größerer Experte als die Leute, die sich beruflich damit auseinandersetzen. Zumal meine Aufgabe als Journalist ja eine ganz andere ist als die eines Trainers.
Du hast dich vor kurzem in einem Tweet beschwert, dass man bei „jedem Scheißspiel“ sagen würde, dass sei etwas für dich.
Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass langweilige 0:0-Spiele etwas für Taktikfreunde sind. Taktik ist ja nicht nur Defensive, sondern auch Offensive. Bei einem langweiligen Spiel ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass beide Teams keine gute Offensivtaktik haben – und dementsprechend langweile ich mich genauso wie der Durchschnittsfan.
Wie schaut Tobias Escher Fußball? Immer mit einem Notizblock oder kann man Dich auch mal ganz entspannt und ohne „Arbeit“ im Hinterkopf im Stadion antreffen?
Fußball schaue ich meist mit Stift, Notizblock und Tee bewaffnet. Mittlerweile ist es meist Arbeit, aber ich gehe natürlich auch noch mit Freunden ins Stadion, keine Frage. Doch wenn man sich 40 Stunden in der Woche mit Fußball beschäftigt, nutzt man seine Freizeit doch eher dazu, Videospiele zu spielen oder Bücher zu lesen.
Auf die Frage, mit welcher Taktik er denn spielen wolle, hat mich ein Kreisliga-Trainer mal ausgelacht und geantwortet: „Wir spielen nur zum Spaß!“
Man kann ja auch mit Taktik Spaß haben!
Dennoch: Welche taktischen Grundregeln können Spielern und Trainern auch in der Kreisliga weiterhelfen?
Mittlerweile sind dank der flächendeckenden Trainerausbildung die meisten Trainer mit taktischem Wissen bewaffnet. Selbst in der Kreisliga werden bereits taktische Kniffe trainiert. Wer ein gutes Pressing beherrscht oder zwei gut verschiebende Viererketten hat, kann gerade in der Kreisliga punkten, wo die Spieler technisch nicht ganz so stark sind. Genau das ist ja auch ein wichtiger Punkt der Taktik: die eigenen Schwächen relativieren und die gegnerischen Schwächen ausnutzen. Das kann man unabhängig von der Spielklasse.
Das Bucht ist direkt beim Rowohlt-Verlag unter folgendem Link erhältlich: http://www.rowohlt.de/taschenbuch/tobias-escher-vom-libero-zur-doppelsechs.html.
Interview: Stefan Himmer